05.Februar 2018
»Strategie der Spannung« oder »Dialektik der Eskalation«?

von Torsten Mann

»Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis.«[1]
- Karl Marx, 1850

»Die Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen ist ohne gewaltsame Revolution unmöglich.«[2]
- Wladimir Lenin, 1918


Im strategischen Konzept des Leninismus dient der Terrorismus dazu, die öffentliche Ordnung zu destabilisieren und das Volk über die »Dialektik der Eskalation« gegen den bürgerlichen Staat und seine Institutionen aufzuhetzen, um dadurch die Voraussetzungen für die Revolution zu schaffen. Lenin erklärte im Jahr 1920: »Die Revolution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale Krise. Folglich ist zur Revolution notwendig: erstens, dass die Mehrheit der Arbeiter die Notwendigkeit des Umsturzes völlig begreift (...); zweitens, dass die herrschenden Klassen eine Regierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigsten Massen in die Politik hineinzieht, die Regierung kraftlos macht und es den Revolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen.«[3] Im sogenannten Minihandbuch des Stadtguerilleros, das offiziell dem brasilianischen KP-Mitglied Carlos Marighella zugeschrieben wird, obwohl es wahrscheinlich vom KGB verfasst und verbreitet wurde, wird ausführlich beschrieben, wie der revolutionäre Terror organisiert werden müsse, um den bürgerlichen Staat in eine »Revolutionäre Situation« zu versetzen.

 
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Wie der Autor des Handbuchs erklärt, müsse die Regierung eines bürgerlichen Staates durch wiederholte Terroraktionen und die ständige Bedrohung durch weitere Anschläge dazu gezwungen werden, ihre Überwachungs- und Unterdrückungsmaßnahmen immer weiter zu verstärken, bis hin zur Verhängung des Ausnahmezustands und der Errichtung einer Militärherrschaft, womit die angeblich ohnehin »faschistoide« Natur des westlichen Staats- und Gesellschaftssystems »entlarvt« werden soll: »Polizeirazzien, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen von Unschuldigen und Verdächtigen, Absperren von Autobahnen und Landstraßen machen das Leben in der Stadt unerträglich. Die Militärdiktatur beginnt eine massive politische Verfolgung. Die politischen Morde und der Polizeiterror werden zu einer Routineerscheinung. Trotzdem scheitert die Polizei ständig. Die Kräfte des Heeres, der Marine und der Luftwaffe werden mobilisiert, um von nun ab die Polizeifunktionen zu übernehmen.«[4] Ausdrücklich sollte auf diese Weise eine Situation geschaffen werden, in der das Volk sich weigert, mit den Behörden zu »kollaborieren«, denn »es entsteht ein allgemeines Gefühl der Empörung über die Ungerechtigkeit der Regierung und ihre Unfähigkeit, den Schwierigkeiten nicht mit anderen Mitteln beikommen zu können als dadurch, ihre Opponenten physisch zu liquidieren. Die politische Situation des Landes verwandelt sich in eine militärische, in der [die Vertreter des bürgerlichen Staates] sich immer mehr als die Verantwortlichen für die Fehlschläge und die Anwendung von Gewalt herauskristallisieren, während gleichzeitig die Verschlechterung der Lebensbedingungen des Volkes katastrophale Ausmaße annimmt.«[5]

Marighellas Minihandbuch war zu Beginn der 1970er Jahre in der 68er-Bewegung weit verbreitet und lieferte die ideologischen und strategischen Grundlagen, mit denen auch die RAF ihre Anschläge rechtfertigte. So heißt es beispielsweise in einem Text von Ulrike Meinhof, die nicht nur zur ersten Führungsgeneration der RAF gehörte, sondern auch Mitglied der KPD war: »Das ist die Dialektik der Strategie des antiimperialistischen Kampfes: dass durch die Defensive, die Reaktion des Systems, die Eskalation der Konterrevolution, die Umwandlung des politischen Ausnahmezustandes in den militärischen Ausnahmezustand der Feind [das heißt: die Regierung, der bürgerliche Staat] sich kenntlich macht, sichtbar – und so, durch seinen eigenen Terror, die Massen gegen sich aufbringt, die Widersprüche verschärft, den revolutionären Kampf zwingend macht. Marighella: ›Das Grundprinzip der revolutionären Strategie unter den Bedingungen einer permanenten, politischen Krise ist, sowohl in der Stadt als auf dem Land ein solches Ausmaß revolutionärer Aktionen durchzuführen, dass der Feind sich gezwungen sieht, die politische Situation des Landes in eine militärische zu verwandeln, daraufhin wird die Unzufriedenheit alle Schichten ergreifen, und die Militärs werden die einzig Verantwortlichen für alle Missgriffe sein.‹«[6]

In anderen Worten, die RAF verfolgte mit ihren Terroranschlägen schon in den 1970er Jahren das ausdrückliche Ziel, die Bundesregierung zur Anwendung polizei- und überwachungsstaatlicher Maßnahmen und zur Einschränkung der allgemeinen Freiheiten und Bürgerrechte zu zwingen, was das Volk zum Widerstand bewegen und eine vorrevolutionäre Stimmung erzeugen sollte, die schließlich in eine allgemeine politische Krise mit der Handlungsunfähigkeit staatlicher Institutionen übergehen würde. Doch obwohl Marighella getreu Lenins Vorgaben in seinem Terrorhandbuch mehrfach ausdrücklich betont hatte, wie wichtig es sei, »die Unterstützung des Volkes zu gewinnen«, und obwohl linke Agitatoren und RAF-Sympathisanten es sich zur Aufgabe gemacht hatten, »den Segen der beteiligten Massen« zu erhalten, war es den Terroristen und ihren Hintermännern nicht gelungen, die Deutschen gegen den Staat aufzuwiegeln.

Anstatt das Volk bereit für die Revolution zu machen, erzielte die RAF mit ihrem Terror das genaue Gegenteil: sie brachte die öffentliche Meinung gegen sich selbst auf, bis diese schließlich immer häufiger die Todesstrafe für Terroristen und sogar ihre anschließende »Entsorgung« auf der Müllkippe forderte. Das heißt, die revolutionäre »Dialektik der Eskalation« scheiterte in den 1970er Jahren an der Mehrheit anständiger und konservativ denkender Staatsbürger, was den sowjetischen Hintermännern des Terrors deutlich machte, dass die öffentliche Moral der westlichen Staaten erst ausreichend »antifaschistisch« zersetzt werden müsse, bevor ein revolutionärer Umsturz Aussicht auf Erfolg haben könnte. Zu diesem Zweck setzen die kommunistischen Geheimdienste seither systematisch Mittel der psychologischen Kriegsführung und der Desinformation ein. So wird beispielsweise unter dem Stichwort »Strategie der Spannung« gemäß dem im Marxismus üblichen Muster der Täter-Opfer-Umkehr die Vorstellung verbreitet, dass die Institutionen der bürgerlichen Staaten, ihre Geheimdienste oder die NATO selbst hinter dem Terror steckten, wodurch der westlichen Öffentlichkeit der Eindruck vermittelt werden soll, dass die Bedrohung für die öffentliche Sicherheit nicht etwa vom kommunistischen Aggressor ausgeht, sondern vom »faschistoiden« Verteidiger, was im Erfolgsfall die Entstehung einer »Revolutionären Situation« ganz erheblich begünstigt.

Die Abfolge der »Dialektik der Eskalation« im strategischen Konzept des revolutionären Terrors lautet also wie folgt:

1. Revolutionäre Aktion durch Terroranschläge gegen den bürgerlichen Staat.
2. Konterrevolutionäre Reaktion des Staates, der zu »faschistoiden« Gegenmaßnahmen gezwungen wird.
3. Aufwiegelung der Bevölkerung gegen den als »faschistisch« erscheinenden Staat.
4. Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, Versagen und Handlungsunfähigkeit staatlicher Institutionen, Anarchie, Revolution.
5. Ein selbsternanntes »Revolutionskomitee« oder eine ebenso selbsternannte »provisorische Regierung« erbittet die »Befriedung« der bürgerkriegsähnlichen Zustände durch eine östliche »Ordnungsmacht« oder durch internationale »Friedenstruppen« unter UNO-Mandat.

Die zum Ende der 1970er Jahre deutlich gewordene Neigung der westlichen Völker, im Krisenfall eher nach rechts zu tendieren als nach links, machen sich die sowjetischen Hintermänner des internationalen Terrorismus seit Beginn der 1990er Jahre dadurch zunutze, dass sie den Terror seither nicht mehr offen marxistisch, sondern unter dem Deckmantel des islamischen Fundamentalismus in Erscheinung treten lassen. Und so ist es, wie der Al-Kaida-Überläufer Irfan Peci erklärte, keineswegs Zufall, dass »wichtige Al-Kaida Ideologen wie Abu Musab Al-suri ihren Anhängern raten, Carlos Marighellas Anleitung zum Terror und auch die Schriften anderer kommunistischer Größen wie Mao, Che Guevara und Fidel Castro genauestens zu studieren und für die dschihadistische Sache anzuwenden.« Tatsächlich offenbart ein im Jahr 2005 aufgetauchtes Strategiepapier, das der Terrororganisation Al-Kaida zugeschrieben wird, dass mit den Anschlägen vom 11. September ausdrücklich das Ziel verfolgt worden sei, die USA zu Kriegen in der islamischen Welt zu provozieren, um damit die »eingeschläferten« Muslime »aufzuwecken« und zum Dschihad gegen die westliche Welt aufzustacheln.[7]

Die Parallelen zu Marighellas »Dialektik der Eskalation« sind offensichtlich, denn nach wie vor richtet sich der Terror hauptsächlich gegen die bürgerlichen Staaten der westlichen Welt, während die Unterschiede lediglich darin bestehen, dass erstens die Revolutionäre sich inzwischen unter dem Deckmantel des Islam verbergen, anstatt wie zuvor offen marxistisch aufzutreten, und zweitens die muslimische Weltbevölkerung an die Stelle der Arbeiterklasse getreten ist, die zur Revolution aufgestachelt werden soll. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die vermeintlich neokonservativen Berater, die US-Präsident George Bush jun. zu dem Militärschlag gegen den Irak getrieben haben, in Wirklichkeit eine trotzkistische Vorgeschichte haben und dass ausgerechnet der letzte KPdSU-Generalsekretär unmittelbar nach dem 11. September 2001 davor »warnte«, dass die Terroristen »einen Krieg zwischen der arabischen und islamischen Welt und der übrigen Welt, zwischen Religionen und Kulturen, provozieren« könnten, weshalb man das Problem besser durch globalpolitische Zusammenarbeit lösen sollte.[8]

Betrachtet man den islamistischen Terror vor dem Hintergrund der kommunistischen Terrorstrategie, dann entsteht zwangsläufig der Eindruck, dass es nicht allein die Terroristen selbst, sondern in erster Linie ihre kommunistischen Hintermänner sind, die gegenwärtig einen Religionskrieg zwischen der islamischen Welt und der westlichen Welt provozieren wollen, bei dem die Kommunisten sich jeweils beiden Parteien als Verbündete anbieten und den Konflikt auf beiden Seiten so lange schüren und aufrechterhalten, bis die politische und gesellschaftliche Konvergenz zwischen Ost und West endlich zur Errichtung einer Weltregierung führt. Im Verlauf dieses Prozesses werden die Anhänger der beiden größten Weltreligionen wechselseitig als vermeintliche »Kreuzritter« und »Dschihadisten« in Verruf gebracht, wodurch pauschal die Religion als angebliche Ursache von Gewalt, Terror und Blutvergießen diskreditiert werden kann, was am Ende auf den ideologischen Triumph des materialistisch-atheistischen Sozialismus im Weltmaßstab hinausläuft. Selbst Lenin hätte sich in all seiner Niedertracht keine diabolischere Strategie ausdenken können.


[1] Karl Marx 1950 - Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850
[2] Lenin 1918 – Staat und Revolution
[3] Lenin 1920 - Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus
[4] Carlos Marighella - Minihandbuch des Stadtguerilleros
[5] Carlos Marighella - Minihandbuch des Stadtguerilleros
[6] Text der RAF - Bewaffneter antiimperialistischer Kampf und die Defensive der Konterrevolution in ihrer psychologischen Kriegsführung gegen das Volk
[7] Spiegel.de 12.08.2005 – Al-Qaidas Agenda 2020
[8] Ntv.de 19.9.2001 – Gorbatschow bei n-tv “Nicht mit Terror auf Terror antworten“



Torsten Mann, Jahrgang 1976, ist politischer Publizist. Er vertritt die These, dass der Kommunismus zu Beginn der 1990er Jahre nicht untergegangen ist, sondern unter Beibehaltung seiner Ziele lediglich eine planmäßige Umgestaltung seiner Methoden vorgenommen hat.

 

 

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